Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Dora Richter, Küchenhilfe, Köchin

geb. 16.4.1892 (Seifen, heute Ryžovna, CZ) gest. 26.4.1966 (Allersberg, Mittelfranken)

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Dora Richter, um 1930. Unbekannter Fotograf.
Dora Richter wurde am 16. April 1892 im böhmischen Erzgebirge geboren. Sie war das älteste von sechs Kindern eines Musikers und dessen Frau, die als Spitzenklöpplerin arbeitete. Da ihre Eltern davon ausgingen, dass sie ein Junge sei, gaben sie ihr den Namen Rudolph.

Schon als Kind indes zeigte Dora alias Rudolph Richter Interesse für Mädchenkleidung, Mädchenspiele und Mädchengesellschaft, während sie eine wahre Abneigung gegen alle Raue, Derbe und Grobe an den Tag legte, das sie mit Jungen in Verbindung brachte. Richter wurde katholisch erzogen und suchte in Krisenzeiten immer wieder Trost und Rückhalt in der Religion. Nach eigenen Aussagen unternahm sie mehrere Versuche, sich das Leben zu nehmen, und hegte gegen ihre männlichen Geschlechtsorgane einen regelrechten Hass.

Nach einer Bäckerlehre zog Dora Richter um 1909 in eine größere Stadt, bei der es sich vermutlich um Karlsbad (Karlovy Vary) handelte. Hier kleidete sie sich in ihrer Freizeit als Mädchen bzw. junge Frau. Später zog sie nach Leipzig, wo sie als „Kartenabreißer“ in einem Kino und in einer Schokoladenfabrik arbeitete. Schließlich fand sie Anstellung in einem Leipziger Restaurant, in dem sie als Kellnerin gekleidet tätig sein durfte.

1916 wurde Richter zum Kriegsdienst eingezogen, jedoch schon nach zwei Wochen wieder aus der Armee entlassen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zog sie vorübergehend in ihren Heimatort zurück, meldete sich aber, ermutigt durch einen Freund, bald im Berliner Institut für Sexualwissenschaft, wo sie wohl ab Mai 1923 als Hausmädchen und Küchenhilfe lebte. Hier arbeitete sie zeitweise mit der Malerin Toni Ebel zusammen, die sich um 1930 ebenfalls geschlechtsangleichenden Operationen unterzog. Von ihr wie den anderen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Magnus Hirschfelds am Institut ließ sich Dora Richter liebevoll „Dorchen“ nennen.

Spätestens 1931 wechselte Dora Richter dann als Küchenmädchen in das Restaurant Kempinski am Bertliner Kurfürstendamm. Über ihren späteren Lebensweg ist nur wenig bekannt. Ihre Freundin Charlotte Charlaque, die wie Richter und Ebel um 1930 ihre körperliche Geschlechtsangleichung im Umfeld des Instituts für Sexualwissenschaft vollzog, teilte 1955 mit, Dora Richter sei – vermutlich nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland – als Köchin in ihre böhmische Heimat zurückgekehrt, wo sie ein Restaurant eröffnete. Charlotte Charlaque bediente sich dabei des Pseudonyms „Carlotta Baronin von Curtius“. Nach Unterlagen der Volkszählung im Deutschen Reich 1939 lebte Dora Richter Ende der 1930er Jahre wieder in ihrem Geburtsort Seifen. Sie wurde wie die übrige deutschsprachige Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben und zog nach Allersberg in Bayern, wo sie am 26. April 1966 im Alter von 74 Jahren starb. Ihr Grab wurde 1998 aufgelassen.

In der Geschichte der Transsexualität gilt Dora Richter heute als erster namentlich bekannter Fall geschlechtsangleichender Operationen. Die chirurgischen Eingriffe, denen Richter sich unterzog, erstreckten sich über den Zeitraum Mai 1923 bis Mai 1931. Ihre Operateure waren unter anderem die Ärzte Heinrich Stabel, Ludwig Levy-Lenz (1892–1966) und Erwin Gohrbandt (1890–1965).

Weiterführende Literatur

Abraham, Felix (1931): Genitalumwandlung an zwei männlichen Transvestiten. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik (Jg. 18), Nr. 4, S. 223-226.

Anonym (1933): Operative Umwandlung von Männern in Frauen gelungen. Die Erfahrungen aus drei Berliner Fällen. In: Die Geburtenregelung (Jg. 1), Nr. 4, S. 33.

Curtius, Carlotta Baronin von (1955): Reflections on the Christine Jorgenson Case, in: One. The Homosexual Magazine (Jg. 3), Nr. 3, S. 27-28.

Hartmann, Clara (2023): Neue Unterlagen zu Dora Richter gefunden, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 71/72, S. 32.

Herrn, Rainer (2005): Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft (Beiträge zur Sexualforschung, 85). Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 201-203.

Holz, Werner (1924): Kasuistischer Beitrag zum sog. Transvestitismus (erotischer Verkleidungstrieb). Med. Diss. Friedrich-Wilhelms-Universität, Berlin.

Najac, Pierre (1931): L’Institut de la Science Sexuelle à Berlin. In: Merlet, Janine (Hrsg.): Vénus et Mercure. Unter Mitarbeit von Gabriel de Reuillard, Henri Drouin u.a. Paris: Editions de la Vie Moderne, S. 165-192.

Noffke, Oliver (2023): Was wurde aus Dora? Dora Richter war die erste Person, die eine vollständige Geschlechtsangleichung erfahren hat. Ihr Weg als Patientin ist gut dokumentiert. Wer sie war, ist hingegen weitestgehend unklar. Ihre Spur verwischt vor 90 Jahren in Berlin. Berlin. Online hier.

Noffke, Oliver (2024): Pionierin der trans* Geschichte: Dora ging nach Böhmen, auf: www.rbb24.de, 2. Juni 2024.

Riedel, Samantha (2022): Remembering Dora Richter, One of the First Women to Receive Gender-Affirming Surgery. Her life story – and the reason we know so little about her – is a chilling reminder of what’s at stake when the far right attacks us today. Online hier.

Thomasy, Hannah (2022): A Rose for Dora Richter, online auf: proto – Massachusets General Hospital. Dispatches from the Frontiers of Medicine.

Wolfert, Raimund (2022): Charlotte Charlaque. Transfrau, Laienschauspielerin, „Königin der Brooklyn Heights Promenade“. Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich.