Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Sidonie Fürst, Dr. med., Dermatologin

geb. 9.7.1891 (Tyrnau, heute Trnava, Slowakei) gest. 18.9.1973 (New York, USA)

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Gruppenbild vom Wiener WLSR-Kongress 1930. In der Mitte Sidonie Fürst links neben Magnus Hirschfeld. Quelle: Figaro 1930 (Jg. 7), Nr. 21, o. S.
Sidonie Fürst wurde am 9. Juli 1891 in Tyrnau (Trnava) geboren, das nordöstlich von Bratislava in der heutigen Slowakei liegt. Sie studierte ab dem Herbst 1911 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien und ab dem Frühjahr 1912 bis zum Sommer 1925 an der dortigen Medizinischen Fakultät, wobei sie nicht jedes Semester eingeschrieben war. Die damalige Rigorosenordnung für das Medizinstudium in Wien sah noch keine eigenständige Dissertation vor, sondern „nur” drei große Prüfungen. Diese Prüfungen legte Sidonie Fürst zwischen März 1923 und Mai 1926 ab.

Sidonie Fürst wurde am 5. November 1926 zum Dr. med. promoviert und nahm anschließend eine Tätigkeit an der Dermatologischen Abteilung der Wiener Poliklinik unter der Leitung von Prof. Ernest Finger (1856–1939) auf. Sie spezialisierte sich dabei vor allem auf venerische Krankheiten und die Familienberatung. Später, wohl im Rahmen der Weltliga für Sexualreform (WLSR), beschäftigte sie sich mit den Berufswegen gleichgeschlechtlich begehrender und trans Menschen.

Sidonie Fürst und ihr späterer Mann Ludwig Vincenz Chiavacci (1896–1970) gehörten zum Organisationsteam des Wiener Kongresses der Weltliga für Sexualreform, der im September 1930 stattfand. Der Reader zum Kongress, der unter dem Titel „Sexualnot und Sexualreform“ erschien und den Sidonie Fürst 1931 zusammen mit ihrem Mann, Josef K. Friedjung und Herbert Steiner herausgab, gilt heute als ihr Hauptwerk.

Um 1930 wollte Magnus Hirschfeld Sidonie Fürst in eine leitende Position ans Berliner Institut für Sexualwissenschaft holen, doch die Pläne zerschlugen sich schon bald. Die Gründe hierfür sind unbekannt. Ursprünglich hatte Hirschfeld Fürst sogar für die Dauer seiner Weltreise (1931/32) als seine Vertretung am Institut vorgesehen, während Ludwig Vincenz Chiavacci als Hirschfelds Stellvertreter in Wien und Redakteur der mehrsprachigen WLSR-Zeitschrift Sexus fungieren sollte.

In seinem Testament Heft II schrieb Hirschfeld, dass er um 1930 nach der Fertigstellung der Geschlechtskunde erschöpft war und einen gewissen „Überdruss an der Bewegung“ verspürte, der ihm vor allem durch die Linsert-Hodann-Affäre entstanden war. Zudem machten ihm Spannungen mit anderen seiner Mitarbeiter*innen zu schaffen, und er litt unter den Mühen, für das Institut zufriedenstellende neue „Hilfskräfte“ zu finden. Zu seinen größten Enttäuschungen zählte er die „noch vor der Verwirklichung zerstörte Hoffnung Frau Dr. Fürst-Chiavacci“.

Ab Anfang der 1930er Jahre leitete Sidonie Fürst eine eigene ärztliche Praxis in Wien, und 1938 gelang ihr mit Unterstützung der British Federation of University Women (BFUW) und einem Affidavit der US-amerikanischen Frauenrechtlerin und Aktivistin für Geburtenkontrolle Margaret Sanger die Flucht aus Österreich über London in die USA.

Sidonie Fürst und Ludwig Vincenz Chiavacci heirateten erst im Sommer 1939 in London. Chiavacci fuhr am 19. August 1939 von Southampton aus nach New York, seine Frau konnte ihm erst vier Monate später, am 29. Dezember 1939, von Liverpool aus folgen.

In New York wurde Sidonie Chiavacci Assistentin an Margaret Sangers „Birth Control Clinical Research Bureau” (BCCRB), der einst ersten und damals nach wie vor größten Verhütungsklinik in den USA. Sie wurde 1946 von der amerikanischen Besatzungsmacht für eine Professur in Österreich vorgeschlagen, doch wurde der Vorschlag nie umgesetzt. In der Folge praktizierte sie bis etwa 1960 als Ärztin des österreichischen Generalkonsulats in den USA. Sidonie Chiavacci starb am 18. September 1973 im Alter von 82 Jahren in New York.

Schriften (Auswahl)

Friedjung, Josef K., Sidonie Fürst, Ludwig Chiavacci und Herbert Steiner. Hrsg. (1931): Sexualnot und Sexualreform. Verhandlungen der Weltliga für Sexualreform. IV. Kongress abgehalten zu Wien vom 16. bis 23. September 1930. Wien: Elbemühl. [Darin: Fürst, Sidonie: Das Problem der alleinstehenden Frau, S. 92-93.]

Weiterführende Literatur

Dose, Ralf. Hrsg.(2013): Magnus Hirschfeld. Testament Heft II. Berlin: Hentrich & Hentrich, S. 108.

Grossmann, Atina (2006): „Neue Frauen” im Exil. Deutsche Ärztinnen und die Emigration, in: Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, S. 133-158.

Hubenstorf, Michael (1988): Vertriebene Medizin – Finale des Niedergangs der Wiener Medizinischen Schule?, in: Friedrich Stadler (Hrsg.): Vertriebene Vernunft, Bd. 2: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Wien: LIT-Verlag, S. 766-793, hier S. 790.

Kühl, Richard (2022): Auf dem Weg zu einer Charta der sexuellen Menschenrechte. Idee und Öffentlichkeit der Weltliga für Sexualreform (1928–1935), in: History | Sexuality | Law, 10/05/2022 (online hier).

Oertzen, Christine von (o.J.): Eintrag „Dr. med. Sidonie Fürst“ in der University Women’s International Networks Database (online hier).