Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

NS-Opfer unter Vorbehalt

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Auf dem Titelbild: Entlassungsschein des KZ-Häftlings Max Müller

Das Dokument diente als Beweismittel für den Antrag auf Entschädigung und Anerkennung als Opfer des Faschismus. Obwohl Max Müller auch seine Häftlingsnummer mit dem roten Winkel als KZ-Kennzeichen für politisch Verfolgte vorlegte, bekam er als Homosexueller nichts und ihm wurde der Status “Opfer des Faschismus” aberkannt.
Er war nach einem Justizurteil nach § 175 StGB acht Jahre lang in Konzentrationslagern inhaftiert: Dachau, Mauthausen, Buchenwald, Sachsenhausen.
Der Entlassungsschein vom 27. April 1945 wurde nach Räumung des Konzentrationslagers Sachsenhausen während des Todesmarsches wahrscheinlich im Waldlager Below ausgestellt, wo nach Intervention von Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes eine Gruppe von reichsdeutschen Häftlingen offiziell aus der Haft entlassen wurde.

“Die Hitlerei vernichtet mich erst jetzt .”

Mit diesen Worten gab der Jurist Dr. Kurt Gudell 1952 seiner Wut und Verzweiflung Ausdruck, als Opfer der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung weiterhin ausgegrenzt und abgewiesen zu werden. Nach KZ-Haft, Strafverfolgung durch die NS-Justiz, Ausbürgerung, Vermögensentzug und Emigration litt er an gesundheitlichen Schäden, war verarmt und wurde zudem gehindert, seinen Beruf auszuüben. Denn er galt als “rechtmäßig bestrafter Krimineller”. Vergeblich kämpfte er um die Aufhebung des NS-Urteils. Seine Vorstrafe wiederum war Ausschlußgrund, um an den Entschädigungsleistungen für NS-Opfer teilzuhaben – ein Teufelskreis, als dessen Hauptursache die Fortgeltung des nationalsozialistischen Sonderstrafrechts gegen Homosexuelle festzustellen ist. Zu diesem Ergebnis kommt die Berliner Studie zum Schicksal verfolgter Homosexueller nach 1945.
Aufgezeigt wird die oft unterschätzte Rolle der NS-Justiz, d. h. der Rechtscharakter der Verfolgung homo sexueller Männer sowie die Auswirkung auf die Lebenssituation und Nachkriegsexistenz der Betroffenen. Dargestellt wird das Scheitern der Entnazifizierung. Das NS-Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle blieb bis 1969 geltendes Recht in der Bundesrepublik. Die Opfer des Strafrechts sahen sich auf den Sozialstatus “Vorbestraft” zurückgeworfen und wurden am Aufbau einer neuen Existenz gehindert.
Anhand von Fallstudien werden aus der Sicht der NS-Opfer ihre vergeblichen Bemühungen um strafrechtliche Rehabilitierung und Entschädigung verdeutlicht. Auch diese Abweisung erfolgte nach geltendem Recht. Für die Opfer war die Verfolgung nicht zu Ende.
Geschildert wird der Kampf gegen das weitergeltende Strafrecht durch die Berliner “Gesellschaft für Reform des Sexualrechts” im Kontext der Homosexuellenbewegung der 50er Jahre. Der Aufbruch endete durch staatliche Repression. Ein Großteil der homosexuellen NS-Opfer hat die Liberalisierung der 70er Jahre nicht mehr erlebt.

Inhalt
I. NS-Verfolgung
II. Rehabilitierungsversuche
III. Entschädigungsbemühungen
IV. Reformaktivitäten
Abbildungsnachweise
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Autoren

I. NS-Verfolgung

Andreas Pretzel: Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle
Gabriele Roßbach: Auswirkungen der NS-Verfolgung

II. Rehabilitierungsversuche

Andreas Pretzel: Die gescheiterte Entnazifizierung des Rechts
Andreas Pretzel: Ansprüche auf strafrechtliche Rehabilitierung
Carola Gerlach unter Mitarbeit von Vera Kruber: Auskunft aus dem Strafregister: Vorbestraft

III. Entschädigungsbemühungen

Christian Reimesch: Entstehung des westdeutschen Entschädigungsrechts
Carola Gerlach: Anträge auf Anerkennung als “Opfer des Faschismus” (OdF) und “Politisch, rassisch oder religiös Verfolgter” (PrV)
Carola Gerlach: Anträge auf Entschädigung und Rückerstattung
Andreas Pretzel: Abhilfe für “Allgemeine Kriegsfolgen”

IV. Reformaktivitäten

Andreas Pretzel: Aufbruch und Resignation Zur Geschichte der Berliner “Gesellschaft für Reform des Sexualrechts e.V.” 1948-1960