Anna Hájková: Menschen ohne Geschichte sind Staub
Homophobie, queere Juden und die Geschichte des Holocaust
Woran liegt es, dass sich bis heute kaum jemand mit gleichgeschlechtlichem Begehren und Verlangen während des Holocaust beschäftigt hat? Die historiographische Leerstelle ist durch die radikale Homophobie der einstigen Häftlingsgesellschaft bedingt, und deren Abwehrhaltung wird bis heute machtvoll tradiert. Anhand dreier Beispiele zeigt Anna Hájková, wie queere Liebesbeziehungen unter Lagerhäftlingen zwischen 1940 und 1945 von den Überlebenden als deviant erzählt und damit ausradiert wurden, und sie diskutiert, welche Bedeutung dies für unser Verständnis von LSBTI*-Rechten heute hat.
Anna Hájková ist Associate Professor für neuere europäische Geschichte an der University of Warwick, Großbritannien. Ihr erstes Buch The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt erscheint demnächst bei Oxford University Press. Anna Hájková schreibt aktuell an einem Buch über die queere Geschichte des Holocaust.
Rainbow Lectures in Berlin
Magnus Hirschfeld zum 150. Geburtstag: Vorträge zu Fragen der queeren Zeit
Keine soziale Bewegung kann heute auf eine ähnlich wechselvolle Geschichte zurückblicken wie die Bürgerrechtsbewegung, die gemeinhin unter dem Kürzel LSBTI* verstanden wird: Es ist die Bewegung des Aufbruchs von lesbischen Frauen, schwulen Männern, Trans*- und Inter-Menschen, die, allen bitteren Rückschlägen zum Trotz, eine fast globale Erfolgsgeschichte aufweist. Ihre größten Erfolge konnten indes erst in den letzten Jahrzehnten eingefahren werden. Doch noch immer harren einige Ansprüche der Bewegung ihrer Verwirklichung.
Im Mai 2018 wäre der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld 150 Jahre alt geworden, und im Juli 2019 ist es 100 Jahre her, dass sein Institut für Sexualwissenschaft in Berlin gegründet wurde. Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) veranstaltet zusammen mit der Initiative Queer Nations e.V. von November 2018 bis Juni 2019 eine Vortragsreihe, die aus sechs Lectures besteht: sechs Interventionen zur Würdigung des Erbes Hirschfelds, des nicht einzigen, aber bis zur NS-Machtübernahme in Deutschland prominentesten Kämpfers für sexuelle Selbstbestimmung und politische wie gesellschaftliche Anerkennung von Menschen aus dem ‚queeren‘ Spektrum.
Es sind sechs Vorträge von Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Bürgerrechtler*innen aus aller Welt: Ulrike Lunacek (Österreich), Katarzyna Remin (Polen), Anna Hájková (Großbritannien), Patrick Henze (Deutschland), Aeyal Gross (Israel) und Dennis Altman (Australien).
Sie alle markieren gedankliche und zur politischen Praxis einladende Perspektiven: gesellschaftspolitische Momentaufnahmen, Rückblicke auf die Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft. Im Fokus stehen dabei die Lebenswelten von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen heute und morgen. Untersucht wird, inwiefern sich ihre rechtliche und soziale Situation seit Hirschfelds Zeiten verändert hat – und wie, vor allem in globaler Hinsicht, Möglichkeitsräume von und für ‚queere‘ Menschen noch erweitert werden können.